Die Kette der Kriege
von Rudi Hechler
Den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine haben viele nicht für möglich gehalten, um so dringlicher der Appell: »Nieder mit den Waffen!«
Aus: junge welt- Ausgabe vom 05.04.2022, Seite 11 / Feuilleton | Friedenspolitik
Rudi Hechler stammt aus einem kommunistischen Elternhaus. Der gelernte Schriftsetzer war 25 Jahre Stadtverordneter für die DKP in Mörfelden-Walldorf
Im Jahr 1934, als ich geboren wurde, schrieb Bertolt Brecht: »Keine Stimme ertönt außer der Stimme der Herrschenden.« Lange vor diesem schrecklichen Krieg in der Ukraine bemerkten wir schon die »totale Gleichschaltung« in den Medien. Ich mache mir darüber – wie viele andere – Gedanken. Vor allem auch darüber, in welcher Geschwindigkeit man heute Stimmungen erzeugen kann. Mit dem Brecht-Regisseur Manfred Wekwerth sprach ich einmal über die Maidan-Auseinandersetzungen. Er meinte trocken: »So was hätten die gern auch auf dem Roten Platz in Moskau.« Ich erinnere bei jedem Gespräch an solche Pläne, die es gab und die es gibt.
Immerhin, »Regime-Change« wurde zum geflügelten Wort. Endlich wäre dann das Tor offen fürs große Kapital: Ein gewaltiges Land. Riesige Rohstoffvorräte. Gewaltige Ressourcen und Absatzmärkte. Sibirien wird bald auch noch auftauen – ungeheure Flächen, auch für die Landwirtschaft.
Welt in Brand
Erinnern wir uns: Am 1. September 1939 begann Hitler den Zweiten Weltkrieg. Er kostete 50 Millionen Menschen das Leben. 35 Millionen kamen verkrüppelt aus den Schlachten. Deutschland verlor in diesem verbrecherischen Krieg über sieben Millionen, Polen fast sechs Millionen, die Sowjetunion etwa 27 Millionen Menschen. 14 Millionen Deutsche verloren ihre Heimat.
Allein in meinem Heimatdorf Mörfelden gab es – bei damals 5.487 Einwohnern – 271 Gefallene, über 200 Soldaten wurden vermisst und kehrten niemals heim. Das bedeutet, dass zirka jeder vierte Mörfelder im wehrpflichtigen Alter im Krieg geblieben ist. Hinter diesen nüchternen Zahlen verbirgt sich namenloses Leid von Müttern, denen der Sohn fiel, von jungen Frauen, die den Vater ihrer Kinder verloren.
Ich erinnere mich, wie die Gefallenenmeldungen im Rathaus abgeholt und in die Häuser der Betroffenen gebracht wurden. Ich erinnere mich an die Schmerzensschreie der Mütter und Ehefrauen, die dann auf der Straße zu hören waren. Das war in allen betroffenen Ländern so, es hat sich bis heute nicht geändert. Ich erinnere mich an die Nächte im Keller. Man hörte die Bomber, sah die suchenden Scheinwerfer.
Wenn die Flakgeschütze bellten und Bomben fielen, rieselte der Kalk von der Decke. Ich erinnere mich: Nachts auf der Straße sahen wir den roten flackernden Himmel über Darmstadt, über Frankfurt, Hanau, Offenbach. Allein in Darmstadt starben beim Angriff auf die dicht besiedelte Innenstadt in einer Nacht 11.500 Menschen. Rund 20 Prozent der Opfer waren Kinder unter 16 Jahren. »Das waren auch Kriegsverbrechen!« sagen heute manche, die es offenbar erleichtert, auf andere zu zeigen. »Der deutsche Faschismus«, pflege ich zu antworten, »hat die Welt in Brand gesetzt – die Flammen schlugen zurück!«
Wir fanden ein kleines Heft meiner Mutter. Luise Hechler war 42 Jahre alt und hatte drei Kinder. Ende März 1945 schrieb sie einen fiktiven Brief an unseren Vater, von dem sie nicht wusste, wo er war und ob er überhaupt noch lebte: »Lieber Jakob, … die Panzer stehen in Groß-Gerau. In der Nacht hat die Artillerie feste geschossen. Es kam immer näher … Um fünf Uhr haben sie auf Mörfelden geschossen. Der zweite Schuss ging ganz in unsere Nähe. Beim Nachbarn ist das Dach weg, und die Wand ist eingedrückt. Tote hat es keine gegeben, aber etliche Häuser sind kaputt. Am Sonntag, den 25. März um fünf Uhr nachmittags sind die ersten Panzer hier durch. Alles hat die weiße Fahne gehisst …«
Ich erinnere mich an meinen großen Bruder Heinz. Im April 1928 geboren, wurde er schon in seiner Kindheit geprägt durch eine brutale Hausdurchsuchung durch die SA. Man zog ihm die Bettdecke weg, weil man glaubte, darunter verstecke sich der Vater. Im März 1945 wurde »der Bub« unter Lebensgefahr im Keller versteckt und entging so – hinter einer Wand von Futterrüben – in letzter Minute dem Einzug zum »Volkssturm«. Ich erinnere mich an ein Verbrechen in unserer Nähe. Kurz bevor die 3. US-Armee den Rhein überquerte, erschossen die Nazis sechs Menschen – Kommunisten, Sozialdemokraten, eine Jüdin. Seit vielen Jahrzehnten legen wir am 22. März einen Kranz an der Stelle nieder.
Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist etwas passiert, das wir nicht für möglich halten wollten.
Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die Regierung eines Landes, das unter einem Vernichtungskrieg furchtbaren Ausmaßes derart gelitten hat, solch einen Krieg beginnen würde. Die russischen Panzer werden von den Urenkeln der Frauen und Männer gesteuert, die gemeinsam mit ihren ukrainischen Kampfgefährten unter unvorstellbaren Opfern die Sowjetunion verteidigten, die Hitlerwehrmacht niederrangen und Europa vom Faschismus befreiten. Der Einmarsch in ein anderes Land ist gleichwohl durch nichts zu rechtfertigen. Weder durch den Verweis auf eigene Sicherheitsinteressen noch durch die Kette völkerrechtswidriger Kriege der NATO. Der Imperialismus aber, das erleben wir in unserem langen Leben zum wiederholten Mal, ist in der Lage, Umstände zu schaffen, die die betroffenen Staaten bei Strafe ihres Untergangs zwingen, Maßnahmen zu ergreifen, die durch nichts zu rechtfertigen sind außer durch den Selbsterhaltungstrieb.
1928 demonstrierten die Arbeiter durch Mörfelden mit einem Transparent »Wir schützen die Sowjetunion!« Wir konnten sie nicht schützen. Nach 1945 änderte sich weniger, als wir gedacht hatten. Der Antikommunismus, die Russenfeindlichkeit blieben. Die Russen – das waren brutale Frauenvergewaltiger. Den Familien wurde erzählt: »Eure Vermissten sind vielleicht in den Schweigelagern in Sibirien«. Wir hielten tapfer dagegen; wir waren in der Illegalität in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft aktiv. Es begann der Tourismus. Arbeiterzüge fuhren durch das große Land. Manche von uns waren zum Studium in Moskau. Natürlich sahen wir auch viele Ungereimtheiten. Gorbatschow tauchte auf. Wir plakatierten Fotos von ihm. Und hatten später Anlass, sie zu zerreißen.
Als am 25. Dezember 1991 die rote Fahne auf dem Kreml eingeholt wurde, hatten viele Genossinnen und Genossen nasse Augen. Manche und mancher hoffte von diesem Riesenland, von dieser »unserer früheren Sowjetunion«, kämen wieder Anstöße und Ideen, die unseren Kampf befördern. Wie auch immer: Sie kamen aus der Außenpolitik Russlands. Putin und sein Außenminister, der sein Handwerk noch unter einem Außenminister Gromyko gelernt hatte, machte dem Westen einen Vorschlag nach dem anderen, wie man sich friedlich und gemeinsam in der Welt nach dem Kalten Krieg einrichten könnte. Sie mahnten beim Westen bis zuletzt die für Russland absolut roten Linien an. Alles umsonst.
Also gehen wir zum Ostermarsch! Zeigen wir unsere Transparente: »Nieder mit den Waffen! Stoppt den Krieg in der Ukraine! Stoppt das 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm!« Halten wir unsere Türen offen für alle, die aus Kriegen und Seenot entkommen wollen – unabhängig von Hautfarbe, Staatsangehörigkeit und Identität, unabhängig, aus welcher Richtung sie kommen!
Lassen wir den Kopf nicht hängen. Benutzen wir ihn weiterhin zum Überlegen.